Marie-Louise von Motesiczky gilt wegen ihrer bemerkenswert ungeschönten Bildnisse, eindringlichen Portraits und geistreich kombinierten und symbolträchtigen Stillleben als eine überzeugende figurative Künstlerin des 20. Jahrhunderts.
1906 geboren, kommt Marie-Louise Josefine Alice von Motesiczky zur Zeit der ausgehenden Habsburger Monarchie in Wien zur Welt. Ihre Eltern Edmund Franz von Motesiczky Kesseleökeö und Henriette von Motesiczky sind beide künstlerisch begabt. Die Mutter ist Dichterin und malt in der Freizeit, der Vater ist Musiker. Die wohlhabende Familie pflegt Austausch mit geistigen und künstlerischen Größen der Zeit wie Siegmund Freud, Johannes Brahms und Hugo von Hofmannsthal. Bereits mit dreizehn Jahren nimmt sie Privatunterricht in Malerei bei David Kohn in dessen Wiener Atelier. 1920 lernt die junge Künstlerin über Ihre Verwandte Irma Simon und deren Mann Heinrich Simon, Verleger der „Frankfurter Zeitung“, den Maler Max Beckmann kennen. Er übt schon früh Einfluss auf Motesiczky aus, wird ein enger Freund der Familie und lernt 1923 im Wiener Haus der Motesiczkys seine spätere Frau Mathilde kennen.
Ihre künstlerische Ausbildung führt Motesiczky 1924 für drei Monate zum ersten Mal an die Frankfurter Kunstschule, später auch „Städelschule“ genannt, bei Johan Vinzenz Cissarz und Franz Karl Delavilla. In Frankfurt trifft sie auch regelmäßig Beckmann, der ihr zum ersten Mal seine Ölgemälde zeigt. Daraufhin beginnt sie ebenfalls in dieser Gattung zu malen. Im Herbstsemester studiert sie wieder in Wien an der Kunstgewerbeschule am Ring. Mit 18 Jahren geht sie nach Paris an die Académie de la Grande Chaumière am Montparnasse. Auf Einladung Max Beckmanns kehrt sie 1927 zurück nach Frankfurt in seine Meisterklasse und steht besonders mit dessen Schülern Theo Garve und Karl Tratt in enger Verbindung. Beckmanns Betonung der Selbstständigkeit seiner Schüler:innen bestärkt Motesiczky darin, ihren ganz eigenen künstlerischen Weg zu suchen. Nach nur einem Jahr zieht Motesiczky 1928 nach Berlin und studiert dort Aktzeichnung im Studienatelier für Malerei und Plastik bei Robert Erdmann. Sie beginnt dort auch ein mehrjähriges Verhältnis mit dem später in Israel erfolgreichen Künstler Siegfried Sebba.
Aus Berlin nach Wien zurückgekehrt flieht sie am 13. März 1938, dem Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wegen ihrer jüdischen Herkunft gemeinsam mit ihrer Mutter in die Niederlande. Motesiczkys Bruder Karl bleibt in Österreich und schließt sich einer Widerstandsgruppe an, die jüdische Personen bei der Flucht unterstützt. Er schafft auch Marie-Louises Bilder aus den 1920er- und 1930er-Jahren aus dem Land. Am 13. Oktober 1942 wird Karl von der Gestapo verhaftet, als er zwei Paaren zur Flucht verhilft. Er wird festgenommen und nach Auschwitz deportiert, wo er 1943 ermordet wird.
1939 kann Motesiczky in den Esher-Surrey Art Galleries bei London eine erste und sehr erfolgreiche Einzelausstellung zeigen und emigriert daraufhin mit ihrer Mutter nach London. Dort begegnet sie Oskar Kokoschka, den sie von früher kennt und der ebenfalls in England im Exil lebt, sowie dem Schriftsteller Elias Canetti. 1966 ist sie mit einer Großen Einzelausstellung in der Wiener Sezession vertreten, zu welcher Elias Canetti auch einen eigenen Aufsatz verfasst. 1984 findet die erste große Retrospektive im Londoner Goethe Institut statt. In den 1990er-Jahren entsteht ein Werkverzeichnis und der „Marie-Louise von Motesiczky Charitable Trust“ wird ins Leben gerufen, um das Werk der Künstlerin für die Zukunft zu erhalten. Dieser übergab dem Museum Kunst der Verlorenen Generation 2023 vier Werke der Künstlerin als Schenkung. Motesiczky stirbt am 10. Juni 1996 in London und wird in der Familiengruft im Döblinger Friedhof in Wien beigesetzt.
Die Freundschaft mit Max Beckmann, der Motesiczky in den Jahren an der Städelschule zur Ölmalerei inspirierte und sie wie alle seine Schüler:innen bestärkte, ihren ganz eigenen künstlerischen Weg zu suchen, dauert auch das Geschehen des Zweiten Weltkriegs hindurch. Motesiczky, die bald nach der Emigration nach London zusammen mit ihrer Mutter aufs Land nach Amersham in Buckinghamshire gezogen war, um den Londoner Bombenangriffen zu entkommen, vermittelt Werke Max Beckmanns an holländische Familienmitglieder, um ihn in seinem Exil während des Krieges zu helfen. Nach Kriegsende übersendet sie ihm Malutensilien und steht mit ihm weiterhin in regelmäßigem Briefkontakt.
Auch Elias Canetti, den Motesiczky erst im Londoner Exil kennenlernt, wird Teil ihrer künstlerischen Biografie. In der Folge bleiben beide über Jahrzehnte befreundet, unterstützen sich gegenseitig in ihrer Arbeit und führen einen regen Briefwechsel. Allerdings empfindet Motesiczky viel mehr für Canetti als umgekehrt. Sie wird nie die zentrale Frau in seinem Leben. Zwischen 1941 und 1955 ist die Beziehung auch intimer Natur. Motesiczky malt viele Studien und Porträts von ihm, doch malt sie ihn 1972 auch als Ratte, nachdem sie erst im Nachhinein über Freunde und Bekannte von seiner zweiten Ehe und Kind erfährt. Trotz allem kann sie auch nicht ohne ihn leben, sie sagt selbst „(…) ganz ohne C. Welt ohne Sinn – mit C. endlose Quälerei“. Trotz der privaten Zerwürfnisse unterstützen sich beide beruflich immens und schätzen die jeweiligen Fähigkeiten des anderen. Es zeigt Motesiczkys Faszination für und Liebe zu Canetti, dass sie ihn immer wieder malt. Eine um 1945 von der Künstlerin gefertigte Studie, die Canetti lesend zeigt, ist auch Teil der Sammlung des Museums Kunst der Verlorenen Generation.
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